Digitalisierung

Eine neue industrielle Revolution?

In der industriellen Revolution haben Maschinen die Muskelkraft ersetzt – heute beginnen Maschinen, das Denken zu übernehmen. Digitalisierung erobert den Alltag – und Unternehmen müssen sich darauf einstellen.

Industrialisierung hat die Welt verändert

Der 23.11.1837 gilt als Eröffnungsdatum der ersten Dampfeisenbahn in Österreich. Die Kaiser Ferdinands-Nordbahn wird von einer Maschine angetrieben – nicht von Pferden. 1879 fuhr Werner von Siemens erste kleine Elektrolokomotive auf der Berliner Gewerbeausstellung.

Aus weltgeschichtlicher Perspektive markiert der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft einen ähnlich bedeutenden Wendepunkt wie der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit. Damit wurden zwei wesentliche Veränderungen eingeleitet: Mechanisierung und gesellschaftlicher Wandel. Die Mechanisierung, der Gebrauch von Elektrizität und die Massenproduktion von Gütern hat die Welt in einer zuvor nicht gekannten Geschwindigkeit verändert. Der gesellschaftliche Wandel wurde durch das Begreifen von einer großen sozialen Ungleichheit als Problem getrieben. Es war erstmals möglich, ein Auto zu bauen – als Massenprodukt. Es war außerdem einer zunehmenden Menge von Menschen möglich, dieses Auto auch zu kaufen.

Heute basieren die Technologien unseres Alltags vielfach auf den Entwicklungen aus der industriellen Revolution. So fahren unsere Züge weiterhin mit Elektromotoren, die meisten unserer Autos mit Otto- oder Dieselantrieben. Aus der Revolution ist eine Evolution geworden: Bestehendes wird immer weiter entwickelt und perfektioniert.

Ein neuer Umbruch deutet sich an

Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter entwickelte die Theorie der „Schöpferischen Zerstörung“. Dabei werden alte Strukturen durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren, die sich erfolgreich durchsetzen, verdrängt und schließlich zerstört. „Schumpeter-Schocks“ führen zu disruptiven Veränderungen. Beispiele für den technologischen Wandel sind der Übergang von konventionellen CRT-Monitoren mit Braunschen Röhren zu LCD-Monitoren, die Verdrängung der analogen Fotografie zuerst durch Digitalkameras und aktuell verstärkt auch durch Mobiltelefone oder die nahezu vollständige Ablösung des traditionellen Handys durch Smartphones. Einst führende Unternehmen wurden obsolet – sie haben es nicht geschafft, sich rechtzeitig auf die Veränderungen einzustellen.

Die Beispiele sind zahlreich – es gab den führenden Bildschirmhersteller Loewe, der nicht früh genug auf Flachbildschirme umstellte und von Sharp übernommen wurde. Den ehemaligen Sofortbildpionier Polaroid, der zu lange an analoger Technologie festhielt. Den einstigen Giganten Kodak, der zwar die Digitalfotografie erfand – aber nicht konsequent genug verfolgte. Schließlich den ehemaligen Mobiltelefon-Innovator Nokia, der zwar mit dem „Communicator“ die Klasse der intelligenten Telefone begründete, den Trend zum Smartphone aber zu lange ignorierte. Vor der „Schöpferischen Zerstörung“ scheinen auch ehemalige Quasi-Monopolisten wie Microsoft nicht mehr sicher zu sein.

Parallel wächst die Bedeutung von Unternehmen, die Informationen, Sozialität und Vernetzung zu ihrem Geschäftsmodell machen. Sie betreiben ein skalierbares, digitales Business und profitieren von technischer Effizienz. Im Internet sind alle Menschen gleich. Es herrscht Wissensparität, die in der industriellen Revolution angestrebte Gleichheit ist online Realität. Das schafft niedrige Hürden bei der globalen Verbreitung.

Etablierte Player sind Google, Facebook und Ebay; Potenzialträger sind beispielsweise WhatsApp (von Facebook übernommen), airbnb oder Spotify. Diese Firmen zeigen, wie man als „Rule Breaker“ die Regeln des Marktes verändern und durch Digitalisierung ganze Branchen erschüttern kann. In der Musikindustrie hat die digitale Revolution – relativ früh von Apple mit iTunes begonnen – bereits weitgehend stattgefunden, rein digitale Vertriebe und Abonnements sind Normalität. Die gesamte Medienbranche ist dabei, dem Beispiel zu folgen. Der Handel ist in einer früheren Phase des Umbruchs – eCommerce ist jedoch längst auch bei älteren Menschen verbreitet: Die anstehenden, tiefgreifenden Strukturveränderungen zeichnen sich ab. Die Finanzindustrie steht noch relativ am Anfang des Veränderungsprozesses – beginnt aber über Konsequenzen nachzudenken. Zwar ist die Etablierung neuer Standards schwierig – wie am Beispiel NFC zu erkennen ist. Die ersten Ansätze für Lösungen jenseits der etablierten Modelle werden jedoch bereits sichtbar – von PayPal über Google Wallet bis zu Paym.

Grafik Digitalisierung

Während einzelne technische Innovationen in einigen Branchen zu disruptiven Veränderungen geführt haben, verändert Digitalisierung die Welt. So ist es auch zu erklären, dass der Wert digitaler Unternehmen – die nicht an ihren Buchwerten, sondern an ihren Ertragspotenzialen gemessen werden – den von konventionellen Firmen oft übersteigt. Google: 318 Mrd., Amazon: 153 Mrd., Facebook: 118 Mrd., Ebay: 71 Mrd., Twitter: 26 Mrd., WhatsApp: 18 Mrd., airbnb: 10 Mrd., Spotify: 4 Mrd. (jeweils in USD, Quelle: Thomson Reuters Datastream, Stand 02.04.2014, nicht börsennotierte Unternehmen geschätzt, WhatsApp am Kaufpreis bemessen). Zum Vergleich: Siemens wird mit 120 Mrd. bewertet, Daimler mit 102 Mrd. (ebenfalls in USD, gleiche Quelle, gleicher Stichtag der Bewertung). Siemens und Daimler waren Treiber der industriellen Revolution und Erfinder von Elektromotoren und Automobilen. Google ist Treiber der digitalen Revolution und ein Begründer der systematischen Strukturierung der Welt in auswertbare Daten.

Evolution und Revolution finden gleichzeitig statt

Veränderungen und Umbrüche durch Digitalisierung finden in vielen Bereichen parallel statt – mit unterschiedlichen Startzeitpunkten und Intensitäten. Daher ist es schwierig, die Relevanz für eine Branche oder ein Geschäftsmodell einzuschätzen und individuell Chancen und Risiken zu identifizieren. Ein Teil der Digitalisierung betrifft die Entwicklung von Bestehendem – ist eine Evolution. So ist es zum Beispiel längst üblich, ein Produkt oder eine Dienstleistung online zu kaufen oder auch ein Auto über das Internet zu konfigurieren. Das Geschäftsmodell an sich ändert sich dadurch nicht gravierend.

Ein anderer Teil führt zu disruptiven Umbrüchen – zur Revolution. Beispielsweise begründen neue Mobilitätskonzepte, dass potenzielle Kunden von Automobilherstellern zunehmend gar kein eigenes Auto mehr anstreben. Wie die sogenannten „Floater“ – Fahrzeuge, die in der Stadt verteilt sind, per App gebucht und nach Gebrauch einfach wieder abgestellt werden. Alleine in Berlin betreiben die Top-Anbieter DriveNow und Car2Go zusammen bereits über 2.100 Fahrzeuge (Quelle: Betreiber). Google hinterfragt das Konzept des durch einen Fahrer gesteuerten Automobils grundlegend – und hat im Mai 2014 zum ersten Mal eine kleine Gruppe von Journalisten zur rein computergesteuerten Testfahrt eingeladen. Im Straßenverkehr, nicht im Labor. Die traditionellen Automobilhersteller hatten das Konzept zunächst belächelt – heute sorgen sie sich, dass branchenfremde Innovatoren ihre Marktposition erschüttern könnten. Die Finanzindustrie realisiert erst langsam, dass Digitalisierung nicht nur eine Veränderungen der Prozesse für Sales & Service bedeuten wird. So ist es denkbar, dass zukünftig Versicherungsprodukte eine Kombination aus klassischem Schutz und elektronischer Lösung sein könnten: Die Hausratversicherung wird durch inkludierte Innenraumüberwachung günstiger – und schafft Mehrwerte für den Kunden. Möglich ist auch, dass reine Vermittlungsportale wie zum Beispiel der Kreditmarktplatz smava an Bedeutung gewinnen: Hier macht der Kunden das Produkt, der Anbieter stellt nur die Plattform, wie bei Ebay. Schließlich steht mit der Änderung der Konsumentengewohnheiten auch die Notwendigkeit und letztlich die Überlebensfähigkeit des gesamten Filialgeschäftes der Banken in Frage.

Die Veränderungen durch Digitalisierung bedeuten Risiken für tradierte Geschäftsmodelle – bergen aber auch enorme Potenziale. Um diese zu erschließen, wird viel Wagniskapital aufgewendet: In den USA – hauptsächlich im Silicon Valley – letztes Jahr knapp 30 Mrd. USD (Quelle: Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften). Zum Vergleich: In Deutschland wurde im selben Zeitraum nur ca. 1 Mrd. USD an Venture Capital investiert (gleiche Quelle). Eine der führenden Industrienationen hinkt bei der digitalen Innovation massiv hinterher. In der DACH-Region und in Europa besteht insgesamt eine  große Unsicherheit, wie mit der Digitalisierung umgegangen werden soll, welche Strategien die richtige Antwort auf sich verändernde Rahmenbedingungen sind. Sogenannte „Rainmaker“ – einflussreiche Venture Capital Investoren wie die ehemaligen Netscape-Pioniere Marc Andreessen und Ben Horowitz – machen dafür die hiesige Risikoscheu und Bürokratie verantwortlich (Quelle: Thomas Schulz, Spiegel Online, Mai 2014). Dabei ist es durchaus möglich, die digitale Evolution voranzutreiben und parallel an der Revolution zu partizipieren – auch ohne Investitionen in extremen Größenordnungen. Untätigkeit kann allerdings schwerwiegende Folgen haben – und ein einmal aufgebauter Rückstand ist vielleicht nicht mehr aufzuholen.

Unternehmen müssen sich jetzt auf die Digitalisierung einstellen

Unternehmen fokussieren sich meistens auf die Geschäftsfelder, die heute Profitabilität bringen. Die Aufmerksamkeit ist dort, wo Geld verdient wird. Das Generieren zukünftiger Erfolgspotenziale kostet hingegen Geld – und wird deswegen oft vernachlässigt. Im Umfeld der Digitalisierung ist es wichtig, ein ausgewogenes Programm zu entwickeln: Bestehende Geschäftsmodelle müssen fit für die Digitalisierung gemacht werden. Hier muss eine Evolution stattfinden. Gleichzeitig sollten die Chancen für neue Märkte und Potenziale untersucht werden – Unternehmen müssen ihre Rolle in der digitalen Revolution finden und angemessen investieren.

Leider widersprechen sich beide Handlungsfelder: Die Evolution entwickelt Bestehendes kontinuierlich weiter, die Revolution verdrängt, zerstört, schafft Neues. Man spricht auch von „Sustaining“ und „Disruptive“ Innovation. Es ist in der Theorie unmittelbar einleuchtend, dass dieselbe Organisationseinheit nicht sinnvoll das Bestehende weiterentwickeln kann, um es gleichzeitig grundlegend in Frage zu stellen. In der Praxis wird jedoch häufig genau dies versucht – zum Beispiel in F&E-Abteilungen – oder von diesen erwartet. Doch wer beispielsweise über die Optimierung der Logistikprozesse nachdenkt wird schwerlich auf die scheinbar verrückte Idee kommen, Pakete durch Drohnen ausliefern zu lassen – wie Amazon. Wer für das Filialgeschäft (mit-) verantwortlich ist, hat eine schlechte Ausgangsposition um ein „Pure Digital“-Modell zu entwickeln – ohne Filialen.

Es ist sinnvoll, die Handlungsfelder Evolution und Revolution voneinander zu trennen. Die notwendigen evolutorischen Entwicklungen können gut von bestehenden Abteilungen wie der Unternehmensentwicklung oder F&E getrieben werden – wichtig ist eine unternehmensweite Koordination. Wenn diese Entwicklung noch am Anfang steht, kann ein mit externer Unterstützung durchgeführter „Health Check“ helfen. Die Definition von wichtigen Optimierungspotenzialen, die Priorisierung der Aufgaben und die Entwicklung einer Roadmap sind sinnvoll. Das Treiben revolutionärer Entwicklungen innerhalb der bestehenden Strukturen ist jedoch schwierig und in der Regel nur dann Erfolg versprechend, wenn bereits eine ausgesprochene Innovationskultur vorhanden ist: „Thinking out of the Box“ erfordert eben, diese „Box“ auch zu verlassen. Optionen für eine Entwicklung außerhalb der bestehende Strukturen sind beispielsweise Innovationslabs – gegebenenfalls in einer Kombination intern/extern, Joint Ventures, Inkubatoren/Acceleratoren sowie Venture Capital Fonds. Dabei gibt es auch die Möglichkeit, sich an verschiedenen Modellen zu Beteiligen. So kann bei reduzierten Kosten trotzdem vom Innovationspotenzial profitiert werden.

Durch die hohe Dynamik der Digitalisierung, die Komplexität des Themas, die unterschiedlichen Positionen von Branchen im Veränderungszyklus und die Individualität von Unternehmen kann keine generelle Empfehlung für das beste Vorgehen ausgesprochen werden. Die Auswirkungen der Digitalisierung werden absehbar jedes Unternehmen betreffen und es gibt nur eine falsche Strategie: Abwarten.


Kontakt: Dirk Schmachtenberg, Geschäftsführer, Trevisto GmbH, info@trevisto.de
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